Hartmut Dreier

Die Scharounschule Marl – ihre Rettung erinnert und verpflichtet.

Hans Scharoun sagte bei der Grundsteinlegung der Schule in Marl am 27.8.1964:
Pädagogik ist „das Mittel zum höchsten Zweck. Durch sie sollen Erkennen und Wollen entwickelt, durch sie die Grundlage für die Veredelung und Fortbildung der Menschheit geschaffen werden… Diese Hinweise mögen genügen, dass der besonderen Aufgabe der Schule eine besondere Form des Schulbaus entsprechen sollte – eine Schulkaserne ist da nicht am Platz und unseres Erachtens genügt auch nicht ein nur auf das Funktionelle beschränktes Bauobjekt“
( Manfred Walz/Peter Strege/Hartmut Dreier (Hg.): Hans Scharoun im Ruhrgebiet. Entwerfen und Bauen für das Leben Berlin Story Verlag (Berlin 2017, 2. Auflage 2018), S. 26)

Blick auf einige der "Klassenwohnungen"

Die Aula der Scharoun-Schule, die "kleine Philharmonie"


Durchblicke beim Gang durch die Scharounschule Marl

Wer die Scharounschule Marl durch den unscheinbaren Eingang betritt, meint in dem sich öffnenden Foyer in eine Landschaft zu treten – mit ihren Wegen, Geländestufen und Wänden wie Berghänge – mit überraschenden Blick-Achsen, wechselnden Perspektiven, Lichteinfall und Schattenwurf dank der ganz unterschiedlichen Fensteröffnungen. Wer dann in den „Raum der Mitte“, d.h. in die Aula kommt, wird ergriffen vom Erleben in diesem Raum mit dieser Akustik, wo ein Räuspern einen Klang aufbaut! Diese Aula gilt als die “kleine Berliner Philharmonie“, die große plante Hans Scharoun gleichzeitig in Berlin. Wer sich von Foyer und Aula aus auf den Weg durchs Gebäude macht, freut sich nicht nur an den kreativ gestalteten Fluren mit ihren Ecken und Raumsprüngen, sondern kommt auch an dem kleinen Hörsaal vorbei. Scharoun und sein Auftraggeber Bürgermeister Rudi Heiland schufen zentral gelegen diesen Extra-Raum für das Schulparlament, als Ort der jungen Demokratie.

 

Wer dann in eines der Klassenzimmer tritt – jeweils vier hängen wie Waben an diesen strahlenförmig von der Mitte her wegführenden Fluren/„Wegen“ - kommt in eine behagliche „Wohnung“: eigener Vorraum für Jacken und Mäntel der SchülerInnen jeder Klasse mit eigener Toilette und Waschbecken. Dieser Vorraum führt in den sechseckigen eigentlichen Klassen-Raum mit dem umlaufenden Oberlicht des ebenfalls sechseckigen geneigten Daches; der geräumige Klassenraum hat eine ergänzende Raum-Erweiterung, beides jeweils mit großen Fenstern nach draußen. Zudem hat jede Klasse eine eigene Terrasse mit Sitz-Eckbank. Von hier führen jeweils zwei Stufen in den Schulgarten, der zu jeder dieser „Klassen-„Wohnungen“ gehört. Sie alle öffnen sich zum gemeinsamen Schulhof. Man sieht sich von Terrasse zu Terrasse, kann mal eben um die Ecke springen und sich nebenan verabreden.

 

Der Schulhof liegt am Loemühlenbach, dieser Frischluftschneise vom Süden nach Norden, der dann übergeht in den Park „Gänsebrink“ mit dem Jahnwald und dem Jahnstadion. Schon zu Zeiten von Bürgermeister Heiland, vor rund 60 Jahren, wurden für Marls Gründordnungs-Rahmenplanung sehr demokratische, klimatisch sehr nachhaltige Konzepte erarbeitet.

Hans Scharoun wollte nicht nur seine Architektur in solche größeren Zusammenhänge einbeziehen, sondern wollte auch Sonne, Wetter, Pflanzen und Tiere schulisch erlebbar machen. Sogar die Himmelskörper hatte er in seinem Schulprogramm: die Schule hat eine hoch gelegene Aussichtsplattform für Unterricht zu Themen wie Wetter, Sterne und Himmelskunde.

Das Beste ist immer gut, wenn es für alle, bei allen gut ist – verantwortliche kommunalpolitische Weitsicht

Dieses Raumprogramm war teurer als eine normale Schule im Kasernen-Stil/ Bürohaus-Schachtel-Stil. Marl konnte sich das leisten aufgrund sprudelnder Steuereinnahmen vom Bergbau und von der Chemie. Aber im Unterschied zu anderen Städten im Ruhrgebiet mit gleichen Steuereinnahmen war Marl gesegnet durch diesen Bürgermeister, das SPD-Mitglied Rudolf Heiland (1946-1965). Er hatte aus den Irrtümern des Wilhelminischen Preußen-Deutschland und des Hitler-Faschismus die einzig richtigen Lehren gezogen: das Beste ist immer gut, wenn es für alle da ist und allen gut tut (also nicht nur den sog. Eliten). – Bildung, Kultur, Wohnquartiere, d.h. eine Stadtentwicklungspolitik mit Luft, Licht und Sonne und Stadtwäldern samt zusammenhängenden Frischluftschneisen, und Möglichkeiten zu Naherholung und sportlicher Bewegung unter Bäumen gleich nebenan.

Der Bürgermeister ließ sich beraten von den besten Köpfen im demokratischen Nachkriegs-Deutschland: er beriet sich mit Hans Scharoun und dessen Freund Prof. Hermann Mattern, dem international anerkannten West-Berliner Landschafts- und Stadtgrün-Planer, mit seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Günter Nagel, mit Bert Donnepp, der die VHS „die insel“ in Marl gründete, den ersten Neubau einer VHS in der damaligen Bundesrepublik. Der Architekt und Stadtplaner Günter Marschall hatte freie Hand in der Stadtplanung, solange wie Rudi Heiland Bürgermeister war. Die Bauten aus dieser Nachkriegsmoderne machen Marl zu einer Art Internationaler Bauausstellung der Nachkriegs- und Bauhaus-Moderne: das Rathaus, das Hallenbad, das Jahnstadion-im-Jahnwald, die Hügelhäuser, die Scharounschule, die Paracelsusklinik, etliche Schulbauten und Kirchen.

 

Die Scharounschule steht nicht von ungefähr, nicht aus Versehen in diesem Marl, der Beispielstadt im Ruhrgebiet mit ihrer Nachkriegsmoderne/der „Ruhrmoderne“. Die Entstehung der Scharounschule ist ein großer Glücksfall. Ihre Rettung vor mehr als einem Jahrzehnt ist auch ein Glücksfall.

2005: „Ihr seid Traumtänzer“ – 2015: „Wir sind alle stolz“

Eine Rettung in 10 Jahren

Heute kaum zu glauben: Im Jahre 2000 war die Scharounschule unter Denkmalsschutz gestellt worden und verfiel gleichzeitig! Es tropfte durch die Dächer, Räume wurden wegen Schimmelbefall gesperrt. Noch fand dort Unterricht der beiden Gesamtschulen statt, bis sich Lehrkräfte wegen des Schimmels verweigerten. Die Schule wurde 2006 dicht gemacht.

Prof. Dr. Carsten Ruhl schrieb in der FAZ im Herbst 2004 einen flammenden Appell: Rettet die Scharounschule in Marl! Der Bund Deutscher Architekten BDA lud 2005 zu seiner öffentlichen Mitgliederversammlung in die Schule ein, und kurz darauf gründeten in diesem dem Verfall übereigneten Gebäude etwa zwanzig Menschen den Initiativkreis Scharounschule – „zur Rettung für pädagogische-musische Zwecke“.

In Marl galten wir vom Initiativkreis zunächst als Traumtänzer. Appelle aus aller Welt für die Rettung der Scharounschule kamen im Rathaus an und wir lancierten sie umgehend an die (kooperative) Presse. Nach und nach drehten wir die Meinung im Stadtrat, bis er schließlich für den Erhalt und die Sanierung der Schule für pädagogische-musische Zwecke stimmte – einstimmig! Nach zehnjährigem Ringen wurde im August 2015 die Scharounschule von Bürgermeister Werner Arndt (SPD) feierlich wieder eröffnet. Sie beherbergt heute die städtische Musikschule sowie die Aloysius-Grundschule.

 

Zum Autor: Hartmut Dreier, Theologe, ev. Pfarrer i.R.

Gemeinsam mit seiner Frau Almuth lernte und beteiligte er sich 1963–1965 in New York und San Francisco in Gemeinwesenarbeit. War evangelischer Studentenpfarrer in Stuttgart und Bochum. Lebt mit Familie seit 1977 in Marl, dessen geheimen Charme mit den engagierten Menschen in einer einmaligen Stadtlandschaft er nach und nach begriff. Von 2005 an Öffentlichkeitsarbeiter des Initiativkreises Scharounschule. Mitglied im Deutschen Werkbund. Seit „1968“: Mitherausgeber der Zeitschrift AMOS („Kritische Blätter aus dem Ruhrgebiet“). Aktiv für den Erhalt vom Jahnwald /Jahnstadion Marl. Aktiv im Projekt „Abrahamsfest Marl“ der CIJAG = Christlich-Islamische-Jüdische Arbeitsgemeinschaft Marl/Kreis Recklinghausen und immer wieder aktiv in der Initiative Zukunft findet Stadt

Fotos © Hartmut Dreier, Irene Rasch-Erb